Einleitung

Wo heute Luxuswohnungen stehen, befand sich bis vor wenigen Jahren noch eine Einrichtung, von der viele Nordberliner Jugendliche sagten: "Das ist unser Haus!". Die Rede ist von der ehemaligen gewerkschaftlichen Jugendbildungsstätte Konradshöhe, an der Ecke Stößerstraße/Uferweg Oberhavel. Diese Seite soll an die Geschichte dieses Hauses erinnern und sie vor dem Vergessen bewahren.

Berliner Abendschau (SFB), 19. 6.1959: Grundsteinlegung für DAG-Jugendheim from Jörn Boewe on Vimeo.




Als die Jugendbildungsstätte in Berlin-Konradshöhe im Frühjahr 2017 geschlossen und unmittelbar danach abgerissen wurde, zog die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di einen Schlussstrich unter mehr als ein halbes Jahrhundert gewerkschaftlicher Jugendbildungsarbeit im Norden Berlins.




1957 hatte die Deutsche Angestelltengewerkschaft DAG das Grundstück an der Oberhavel erworben. Zwei Jahre später legte Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin (West), den Grundstein für das damals als Ost-West-Jugendbegegnungsstätte gedachte Haus.
In den folgenden Jahrzehnten wurde es zu einem Ort gewerkschaftlicher und demokratischer Jugendbildungsarbeit. Davon fanden die letzten anderthalb Jahrzehnte unterm Dach von ver.di statt, zu der sich DAG und vier weitere Gewerkschaften 2001 zusammengeschlossen hatten.


Allein in den letzten Jahren nahmen hier Jahr für Jahr um die 1200 Jugendliche an Seminaren teil wie: »Rechte und Pflichten in der Ausbildung«, »Beziehungskisten und Gender«, »Entspannt durch die Prüfung« oder »Die Macht der Medien«. Hier trafen sich regelmäßig Jugendliche aus Schulen und Berufsschulen, fanden Kurse für jugendliche Geflüchtete statt. Noch im September 2016 trafen sich junge Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus Asien, Amerika und Europa, um ihre Positionen für den nächsten Weltkongress der UNI Commerce Global Union vorzubereiten.

Trotz guter Auslastung, erfolgreicher Arbeit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit entschied sich die ver.di-Spitze, die Bildungsstätte 2017 zu schließen. Der Entschluss fiel ohne politische Diskussion in der Organisation in einem völlig intransparenten Prozess. Offiziell handelte es sich um eine unabhängige unternehmerische Entscheidung der ver.di-Immobilienverwaltungsgesellschaft.

In Zeiten, in denen rassistische Rechtspopulisten im Aufwind sind, brutaler Kapitalismus soziale Ungleichheit forciert und Gewerkschaften weiter Mitglieder verlieren und angesichts dieser Herausforderungen viel zu schwach sind, ist demokratische und gewerkschaftliche Jugendarbeit wichtiger denn je. Die Schließung der Jugendbildungsstätte Konradshöhe hat deshalb eine weitere empfindliche Lücke gerissen.

Doch die Arbeit der Bildungsstätte hat in über einem halben Jahrhundert Spuren hinterlassen. Diese Dokumentation soll – auf Grundlagen von Interviews mit Akteuren und Zeitzeugen und Archivmaterial – die Geschichte der Bildungsstätte und ihres Trägervereins erzählen. Sie will aber auch zeigen, was davon heute noch bleibt und fortwirkt, Anregungen geben und ermutigen, Jugendbildungsarbeit als existenziell wichtiges Handlungsfeld gewerkschaftlicher Tätigkeit zu begreifen – wenn es auch im 21. Jahrhundert weiterhin Gewerkschaften als relevante Interessenvertretungen abhängig Beschäftigter geben soll.

Gründung und Aufbau – die 60er Jahre




I Gründung und Aufbau – die 60er Jahre


Alles begann damit, dass Mitte der 1950er Jahre der Landesverband der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG) in Berlin (West) feststellte, dass er zu wenig Möglichkeiten für Jugendbegegnungen und gewerkschaftliche Jugendbildung hatte. Der damalige DAG-Landesjugendleiter und spätere Innensenator Peter Ulrich (1928-2011) setzte sich für den Aufbau eines DAG-Jugendhauses ein, das als Unterbringungsstätte für DAG-Jugendgruppen aus Westdeutschland, aber auch als Begegnungsort mit Jugendlichen aus der DDR dienen sollte.

Auch wenn der kalte Krieg bereits in vollem Gange war und die Teilung Deutschlands auf lange Sicht unumkehrbar schien: Noch war die Grenze zwischen Ost und West durchlässig, im geteilten Berlin mehr als anderswo.

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Exkurs: Die 50er und 60er in Westberlin

Seit 1957 war die SPD stärkste Partei in Westberlin und stellte den Regierenden Bürgermeister. Willy Brandt, der bis 1966 an der Spitze des Berliner Senats stand, führte die Stadt nicht nur durch die außenpolitisch krisengeschüttelte Zeit vor und nach der Abriegelung der Berliner Westsektoren durch die sowjetische Armee und der 1962 darauffolgenden Kuba-Krise. Der von ihm geführte SPD-CDU-Senat war nach dem Mauerbau 1961 auch mit massiven wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Durch die Grenzschließung fehlen in Westberlin über Nacht mehr als 50.000 Arbeitskräfte, die zuvor aus Ost-Berlin gependelt waren. Unternehmen und qualifizierte Arbeitskräfte wanderten nach Westdeutschland ab.

Obwohl Willi Brandt vom CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem bayrischen CSU-Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß aufgrund seiner Emigration während der NS-Zeit als »Vaterlandsverräter« verunglimpft wurde, schaffte er es, umfangreiche Finanzhilfen der Bundesrepublik für die »Frontstadt« auszuhandeln, mit deren Hilfe es dem Senat gelang, die Lage zu stabilisieren. Zahlreiche neue Investitionen in Infrastruktur- und Verkehrsprojekte, in den Wohnungs- und Städtebau sowie in Kultureinrichtungen erhöhten die Attraktivität Westberlins. Westdeutsche Berlinbesuche für Schulkassen wurden vom Bund gefördert, Jugendliche kamen, um in Berlin zu studieren – und auch um dem Wehrdienst zu entgehen. Migranten aus der Türkei kamen als »Gastarbeiter« nach Westberlin.

Bei der Abgeordnetenhauswahl 1963 erzielte die SPD mit Brandt an der Spitze ihr bestes Ergebnis aller Zeiten: 61,9 Prozent. Nunmehr in Koalition mit der FDP intensivierte Brandt seine »Politik der kleinen Schritte«, die außenpolitisch auf Entspannung setzte und innenpolitisch auf Demokratisierung sowie die Verbesserung des Zugangs zu Kultur und Bildung für breite Gesellschaftsschichten.
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DAG-Landesjugendleiter Peter Ulrich fand Unterstützung bei Siegfried Aufhäuser, bis 1958 Vorsitzender des DAG-Landesverbandes Berlin. Gemeinsam mit Fritz Rettig vom DAG-Bundesvorstands ergriffen sie die Initiative und trieben die Suche nach einem geeigneten Grundstück für ein Haus der DAG-Jugend voran. Mitte der 50er ergab sich dann eine Gelegenheit. Am 26. Juni 1957 kaufte die DAG einer privaten Erbengemeinschaft ein aus mehreren nebeneinanderliegenden Flurstücken in der Stößerstraße 18-23, der Rohrweihstraße 7 und 9 sowie zweier Wiesen an der Havel bestehendes Grundstück in Berlin-Konradshöhe ab. Die DAG zahlte für das insgesamt 7205 Quadratmeter große Grundstück damals den heute unvorstellbar niedrigen Preis von 65.000 DM.

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Exkurs: Die DAG Berlin in der Ära Aufhäuser

Gewerkschaftsarbeit im geteilten Berlin der 1950er Jahre stand unter heute kaum vorstellbaren Rahmenbedingungen. Zur Vorgeschichte: In Berlin kapitulierte die Wehrmacht am 2. Mai, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 erfolgte die Kapitulation des Deutschen Reiches. Deutschland stand von nun an unter Besatzungsstatus der vier Alliierten. Bis Juli 1945 war ganz Berlin unter der Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Erst danach zogen die amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsmächte in Berlin ein.

Mit dem Tagesbefehl Nummer 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 wurden für Berlin antifaschistische Parteien und Gewerkschaften zugelassen. Am 15. Juni 1945 konstituierte sich der vorbereitende Ausschuss zur Gründung eines Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes mit 17 Fachverbänden.

Die Neugründung der Gewerkschaftsbewegung in Berlin spiegelte in den Folgejahren die Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD, dann SED und SPD wider. Auseinandersetzungen über Wahlverfahren für Gewerkschaftsdelegierte, aber auch inhaltliche Differenzen führten zu einem Spaltungsprozess im FDGB zwischen 1946 und 1948. Der FDGB war von der SED dominiert worden, es trennte sich von ihm eine Unabhängige Gewerkschaftsorganisation (UGO). Die sowjetische Besatzungsmacht untersagte der UGO Gewerkschaftsarbeit im Ostteil der Stadt, die westlichen Besatzungsmächte verboten daraufhin dem FDGB die Arbeit im Westteil der Stadt.

Im Westteil der Stadt orientierte sich die UGO mit ihren Einzelgewerkschaften an der gewerkschaftlichen Entwicklung in den Westzonen. Die Angestelltenverbände schlossen sich in ihrer Mehrheit der 1949 gegründeten Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) an, die Industrieverbände dem ebenfalls 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Beide Gewerkschaftsbünde praktizierten als politische Spitzenorganisation in Berlin weitgehenden Kooperation, organisierten gemeinsam die Kundgebungen zum 1. Mai.

Die Führung des Landesverbands Berlin der DAG übernahm Anfang 1952 Siegfried Aufhäuser, der im Jahr zuvor aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt war. Aufhäuser, Jahrgang 1884, kam aus einer jüdischen Kleinfabrikantenfamilie in Augsburg, erlernte den Kaufmannsberuf, arbeitete in Berlin im noblen Textilkaufhaus Gerson, schloss sich einem kaufmännischen Berufsverband an und wechselte 1913 zum Bund der technischen industriellen Beamten (Butib). In der Weimarer Republik formte er den Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA) mit 17 Berufsverbänden und entwickelte für die Gewerkschaftsbewegung das Drei-Säulen-Modell: Die freien Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenbünde kooperierten im AfA-Bund. Eine Konkurrenz zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschafsbund (ADGB) und zum Allgemeinen Beamtenbund wurde vermieden und eine Zusammenarbeit angestrebt.

Aufhäuser, ein Sozialdemokrat (zuerst bei der USPD), war bis 1933 auch Mitglied des Reichstags. Er forcierte die arbeits- und sozialrechtliche Gesetzgebung und wurde noch 1933 als Vertreter des linken Parteiflügels in den Parteivorstand gewählt. Ahnend, wie die NSDAP mit dem Gewerkschaften umspringen wird, trat er Ende März als Vorsitzender des AfA-Bundes zurück und empfahl die Auflösung der Organisation. Aufhäuser war den Nazis in dreifacher Hinsicht verhasst: als Jude, Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Anfang Mai 1933 emigrierte er zuerst nach Paris, dann nach Prag und beteiligte sich vom Exil aus an der illegalen Gewerkschaftsarbeit. Vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag 1938 flüchtete er in die USA nach New York. Er beteiligte sich in den Exilkreisen an der politischen Arbeit, arbeitete in mehreren Komitees mit. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Journalist für deutschsprachige Exilzeitungen wie zum Beispiel den »Aufbau«.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland interessierte er sich zunächst für eine Mitarbeit im DGB-Vorstand in Düsseldorf. Dort mochte man einen Angestelltengewerkschafter nicht in die Reihen integrieren. In Berlin empfing man Aufhäuser in der DAG wie in der SPD mit offenen Armen. In seiner Gewerkschaftsarbeit ließ er den Berufsgruppen in der DAG weitgehende Eigenverantwortung und vollzog auf politischer Ebene den Schulterschluss mit dem DGB Berlin. In den Führungsgremien der DAG warb er für den Abbau des Konkurrenzverhältnisses zum DGB und seinen Einzelgewerkschaften, fand aber dafür eher wenig Unterstützung.

Während der ganzen 1950er Jahre bestritten die Landesvorsitzenden von DGB und DAG gemeinsam die Kundgebungen zum 1. Mai in Berlin. Angesichts des Drucks der Sowjetunion auf West-Berlin dominierten bei den Kundgebungen die Vorwürfe gegenüber der Moskauer Politik. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im geteilten Berlin und der Verlagerung von Industriearbeitsplätzen von West-Berlin in die Bundesrepublik sah man in der außenpolitischen Situation der Stadt das Hauptübel, das sozialem Fortschritt in Berlin entgegenstand. Für die Gewerkschaften im geteilten Berlin, in West-Berlin, war die Orientierung zur Bundesrepublik daher ohne Alternative.

Aufhäuser zählte zu den wenigen Gewerkschaftsführern Ende der 1950er Jahre, der der Bewegung »Kampf dem Atomtod« eine Berechtigung zusprach. Als gewerkschaftlicher Spitzenfunktionär gehörte er dem SPD-Landesvorstand an. Seine politische Vernetzung und seine politische Standfestigkeit verschafften ihm Einfluss, den er für die DAG zum Einsatz brachte. Für eine gewerkschaftliche Bildungsstätte war das eine gute Basis.

Siegfried Aufhäuser schied 1958 aus der aktiven Gewerkschaftsarbeit aus. Noch einmal befasst er sich mit der Angestelltenbewegung: 1963 veröffentlicht er sein Buch »Das Zeitalter der Angestellten«. Für ihn waren die Angestellten seit jeher kein besonderer Stand, sondern ein Teil der Arbeiterklasse. Und während seiner Ära als AfA-Vorsitzender waren die sozialen Auseinandersetzungen Klassenkämpfe. »Ich hoffe, dass hier im Raum beim Wort Klassenkampf niemand vom Stuhl fällt!«, sagte er auf einer Konferenz zu Beginn der 1920er Jahre.

Gunter Lange, Gewerkschafter, Journalist und Historiker. Landesjugendleiter der DAG Berlin von 1973 bis 1976
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Ulrich und seine Mitstreiter wurden auf dem neu erworbenen Gelände bald schon aktiv. Ein Zeltplatz wurde angelegt, eine behelfsmäßige Holzhütte errichtet. Der ursprüngliche Plan, die auf dem Grundstück stehende Gründerzeitvilla zu sanieren, wurde angesichts des bereits fortgeschrittenen Verfalls des Hauses verworfen. Aus Kostengründen entschied man sich für einen Abriss und Errichtung eines Neubaus. Für diesen legte Willy Brand am 17. Juni 1959 den Grundstein. Das neue »Haus der DAG-Jugend« sollte der Förderung demokratischer Werte und der Begegnung von Jugendlichen aus Ost und West dienen. Hier, in Sichtweite der Sektorengrenze, die mitten durch die Havel verlief, war augenscheinlich ein geeigneter Ort für dieses Anliegen.




Eröffnet wurde der neu errichtete moderne und lichte Gebäudekomplex im März 1960 als ›Begegnungsstätte Haus der DAG-Jugend Konradshöhe e.V.‹. Der Bau der Mauer 18 Monate später, am 13. August 1961, vereitelte das ursprüngliche Anliegen, den Dialog zwischen Westberliner und DDR-Jugendlichen zu fördern. Der eiserne Vorhang teilte Europa, die Weltgeschichte änderte ihren Lauf. Damit änderte sich auch die Ausrichtung der Arbeit.

An den Grundintentionen – Eintreten für Demokratie, Frieden, Entspannung und internationale Verständigung – änderte sich indessen nichts. Die DAG begann mit dem Aufbau einer regelmäßigen Seminartätigkeit, die vor allem auf die Bedürfnisse junger Leute ausgerichtet war. 1962 kamen zum DAG-Bundesjugendtreffen Tausende Jugendliche aus der ganzen Bundesrepublik auf das Gelände der Bildungsstätte am Havelufer.

Verwaltet wurde das Haus der DAG-Jugend von der DAG-Landesleitung in der Bernburger Straße. Es gab noch keine eigenständige Verwaltung vor Ort, keinen Leiter und auch noch kein festes Bildungsteam. Jedes Seminar musste seine Dozentinnen und Dozenten selbst mitbringen. Lediglich die »Herbergseltern« wohnten im Haus und waren feste Ansprechpartner für Gäste und Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen.

Bereits für das erste Arbeitsjahr 1960 weist die Besucherstatistik die beachtliche Zahl von 10.545 Teilnehmertagen aus. Dies sollte etwa die Größenordnung sein, in der die Bildungsstätte auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten – bis zum Schluss – ausgelastet war.

Der Aufbruch der 70er und 80er – Bildungsarbeit als emanzipatorische Politik



II  Der Aufbruch der 70er und 80er – Bildungsarbeit als emanzipatorische Politik


1967 und 68 hatten in Westberlin die Studenten und Studentinnen rebelliert. Sie sahen sich als Teil einer weltweiten Revolte. Tatsächlich kam Ende der 60er einiges in Bewegung: In Paris gingen Studenten und Arbeiter gemeinsam gegen die autoritäre Herrschaft General de Gaulles auf die Straßen, in den USA marschierten hunderttausende gegen den Vietnamkrieg und die Rassendiskriminierung, in Mexiko-Stadt protestierten Zehntausende Studenten für ein anderes Bildungssystem und wurden brutal zusammengeschossen, in Prag versuchte man, das stalinistische Modell durch einen demokratischen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« abzulösen – ein Versuch, der von sowjetischen Panzern erstickt wurde.

Auch die Bundesrepublik veränderte sich. 1969 kam es in Bonn zur Bildung einer sozialliberalen Koalition, Willy Brandt wurde Bundeskanzler. Zum ersten Mal seit Gründung der Republik führte ein Sozialdemokrat die Regierung. »Mehr Demokratie wagen« war das Motto seiner Bundestagswahlkampagne. Reformen lagen in der Luft, und die sozialdemokratische Partei, unterstützt von Gewerkschaften und einer breiten gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, machte sich zu ihrem Motor.

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Exkurs: Die Jugend- und Studentenbewegung 1967/68 in Westberlin

In den 1960er Jahren explodierten die Studierendenzahlen in Westberlin: Noch Anfang 1956 hatte das Abgeordnetenhaus versucht, die Studentenzahl an der Freien Universität auf 9500 zu begrenzen. Dennoch wuchs sie bis 1966 auf 15.615 an. Derselbe Trend machte sich an der Technischen Universität bemerkbar. Die Massenuniversitäten wurden zu Orten gesellschaftlichen Aufruhrs gegen die als erstarrt empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Gewaltsame Konflikte brachte das Jahr 1967: Am 2. Juni hatte die Polizei eine Protestdemonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien knüppelnd auseinandergetrieben. Der Polizist Karl-Heinz Kurras hatte den 26 Jahre alten Benno Ohnesorg, einen Studenten der Romanistik und Germanistik, erschossen.

Nach Willy Brandt, der die »Frontstadt« von 1957 bis 1966 regiert hatte, stand nun der links-pragmatische Sozialdemokrat Klaus Schütz an der Spitze des Senats. Der revolutionäre Schwung der Studenten, deren wichtigste Organisation der 1961 aus der SPD ausgeschlossene Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war, richtete sich auch gegen die sozialdemokratische Stadtregierung. »Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten!«, war eine der halbernst gemeinten Parolen der Protestierenden. Für sie verkörperte Schütz – der nach dem Krieg selbst zum äußersten linken Flügel der SPD gehört und rätedemokratische Positionen vertreten hatte – das verhasste »System«.

Außenpolitische Themen wie Vietnamkrieg, Protest gegen die Schah-Monarchie und die rechte Militärdiktatur in Griechenland standen im Vordergrund, doch auch innenpolitisch ging es hart zur Sache – etwa gegen den Springerkonzern, dessen Enteignung der SDS forderte. Die Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und linken Studierenden war enorm: »Wir lassen uns unser freiheitliches Berlin nicht zertrampeln«, rief der Regierende Bürgermeister vom Schöneberger Rathausbalkon in die Menge – während 10.000 Studierende zum Abschluss des Vietnam-Kongresses gegen den Krieg in Indochina protestierten. DGB-Sprecher Walter Sickert wetterte gegen die »Handvoll Halbstarker«, SPD-Chef Kurt Mattick gegen »Spinner und Außenseiter«. Das lag nah an der Diktion der Bild-Zeitung: »Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen – kein Geld für langbehaarte Affen«.

Fast ein Wunder, dass die Mehrheit der Westberliner Bevölkerung Gelassenheit zeigte: Nur 37 Prozent waren der Meinung, den Studierenden gehe es »nur um Radau«. Für 70 Prozent waren die Demonstrationen eine »zulässige«, für immerhin 35 Prozent eine »ernsthafte« politische Meinungsäußerung – in der gesamten Bundesrepublik sahen das nur 24 Prozent so.

(nach: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/ziviler-protest-1968-kaum-ein-jahr-war-so-bizarr-und-ernst-zugleich-29670578)
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Ein für die Arbeit der Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe wichtiger Meilenstein sozialdemokratischer Reformpolitik war – auf Landesebene – die Verabschiedung des ersten Berliner Bildungsurlaubsgesetzes, das sich speziell an junge Beschäftigte und Auszubildende richtete. Das »Gesetz zur Förderung der Teilnahme an Bildungsveranstaltungen« trat 1970 in Kraft. Erstmals existierte damit eine gesetzliche Regelung, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres die bezahlte Freistellung von der Arbeit für die Teilnahme an anerkannten Veranstaltungen zur politischen oder beruflichen Bildung eröffnete. Sechs Jahre später wurde die Altersgrenze auf 25 Jahre angehoben, was es mehr jungen Menschen ermöglicht, Bildungsurlaub in Anspruch zu nehmen.




In Konradshöhe rückte damit in den 1970er Jahren die Jugendbildungsarbeit noch stärker in den Mittelpunkt. Bildung war eines der großen Themen des gesellschaftlichen Umbruchs. »Ende der 1960er/Anfang der 70er Jahre erlebte die Bundesrepublik eine umfassende Bildungsdebatte, wie es sie seither nie wieder gegeben hat«, erinnert sich Klaus Pankau, der Anfang/Mitte der 1970er nach Konradshöhe kam. »In diese Debatte klinkten wir uns ein, aber wir wollten sie ausdrücklich nicht auf die berufliche Bildung beschränken.«

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Exkurs: Die Einbindung der Bildungsstätte in die Gewerkschaftsorganisation der DAG

Der Verein »DAG-Jugendbildungsstätte Konradshöhe e.V. war seit seiner Gründung in der 60er Jahren so organisiert, dass der jeweilige Landesjugendleiter den Vorsitz innehatte, der Landesverbandsleiter war stets Stellvertretender Vorsitzender. Die weiteren 18 Mitglieder setzten sich paritätisch zusammen aus Mitgliedern des Landesjugendvorstands und des Landesverbandsvorstands. So waren nicht nur Austausch und Anbindung an die Gewerkschaft gesichert, sondern insbesondere die formalen Anforderungen erfüllt, um als »anerkannter, freier Träger der Jugendhilfe« zu fungieren und öffentliche Mittel aus dem Bundesjugendplan/Sonderplan Berlin zu beanspruchen.
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Klaus Pankau studierte Psychologie, Soziologie und Erwachsenenbildung an der FU Berlin und begann 1976 in Konradshöhe als Teamer in der Jugendbildungsarbeit. Leiter des Hauses war zu dieser Zeit der aus der Industrie kommende, ehemalige Landesjugendleiter, Konrad Schülke. 1980 übernahm dann Pankau die Leitung der Bildungsstätte. Pankau`s Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass der Graben zwischen Studentenbewegung auf der einen und Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der anderen Seiten zwar real, aber nicht unüberbrückbar war: »Wir kamen aus der linken FU-Ecke«, erinnert sich der heute 66-Jährige. »und in Konradshöhe stießen wir auf die harte Realität der gewerkschaftlichen und betrieblichen Bildungsarbeit«.




In Konradshöhe erlebte und schuf Pankau ein Klima, in dem Jugendbildung aus einer gewerkschaftlichen Perspektive, aber ohne zu starke Verengung auf die unmittelbaren Bedürfnisse der organisatorischen Kaderbildung diskutiert wurde. Sicher, die gewerkschaftliche Grundlagenbildung für die bestehenden Betriebsjugendgruppen aus allen Organisationsbereichen der DAG stand nie zur Disposition. Ebenso wenig die Ausbildung der Jugendvertreter und Jugendvertreterinnen, die hier erst das nötige Know-how für ihre Arbeit als InteressenvertreterInnen im Betrieb erhielten . Insbesondere an den Wochenenden trafen sich diverse Betriebsjugendgruppen aller DAG-Organisationsbereiche zum Austausch und zur gewerkschaftspolitischen Weiterbildung. Darüber hinaus wurde aber auch die allgemeine politische Jugendbildungsarbeit intensiviert, insbesondere mit einem Fokus auf die sich seit den 1960ern entwickelnde dissidente Pop-, Rock- und Jugendkultur. Hannes Wader trat hier auf, die aufkommenden Debatten um die militärische, aber auch zivile Nutzung der Atomkraft nahmen in den folgenden Jahren einen wichtigen Stellenwert ein. Ökologie wurde ein wichtiges Thema.


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Pankaus Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass der Graben zwischen Studentenbewegung auf der einen und Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der anderen Seiten zwar real, aber nicht unüberbrückbar war.

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Parallel zur großen gesellschaftlichen Bildungsdebatte gab es damals eine hitzige Diskussion um gewerkschaftliche Bildungsarbeit, vor allem in der IG Metall und den DGB-Bildungsstätten. Darin kristallisierten sich hauptsächlich zwei Positionen heraus: Die eine, eher von traditionellen Sozialdemokraten und Kommunisten vertreten, sah die vorrangige Aufgabe gewerkschaftlicher Bildungsarbeit in der Ausbildung des betrieblichen und organisatorischen Funktionärskaders. Die andere – stärker von 1968, der »neuen Linken«, der »Frankfurter Schule« und dem italienischen Revolutionär Antonio Gramsci inspiriert – sah auch gewerkschaftliche Bildungsarbeit eher als kulturell-emanzipatorischen Ansatz, der versuchen sollte, in die Lebenswelten der Beschäftigten hineinzuwirken. »Es war ganz klar diese Richtung, in die wir gingen«, erinnert sich Pankau. »Und sicher waren wir dabei experimentierfreudiger als die meisten DGB-Bildungsstätten, denn der DAG-Landesverband und seine kluge Führung durch den Landesverbandsleiter Erich Rehm, ließen uns den nötigen Freiraum.«




So etwa als 1985 in Berlin der »Offene Kanal« im Rahmen des Kabelpilotprojektes Berlin gegründet wurde – ein Hörfunk- und TV-Kanal, der allen Interessierten offenstand und für den rundfunkrechtlich gebotenen Pluralismus im Kabelnetz sorgen sollte. Internet und »Youtube« gab es noch nicht, und in Ludwigshafen, Dortmund und in Berlin entstanden »Offene Kanäle«, in anderen Städten entwickelten sich »Freie Radios«, auf der Nordsee gab es »Piratensender«.

In der Nutzung dieser neuen Medienmöglichkeiten sah Pankau eine Chance für die gewerkschaftspolitische Jugendbildung. Junge Menschen sollten ihre betrieblichen und persönlichen Lebenswelten und deren Umbrüche medial bearbeiten, dokumentieren und dabei lernen.




Doch eine Radio- oder Fernsehsendung produzieren, erfordert Know-how. »Wir gingen damals mit anderen Interessenten aus der Jugend-, Bildungs- und Sozialarbeit zum damaligen Wirtschaftssenator Elmar Pieroth und sagten: Wir wollen, dass ihr uns Medienwerkstätten finanziert«, erinnert sich Klaus Pankau. Die Idee war abgeguckt vom BBC Channel 4. Die nötige, damals noch sehr teure Video- und Schnitttechnik wurde mit finanzieller Unterstützung des Senats angeschafft, und die jungen Leute zogen los und drehten mit Unterstützung eines eigens in der Bildungsstätte ausgebildeten fünfköpfigen Teams an Medienpädagogen ihre eigenen Filme. Eine, die damals das Projekt begleitete und hier ihre ersten Schritte in Sachen Medienkompetenz ging, war die Fernsehjournalistin Martina Zöllner, heute Kulturchefin und Leiterin der Redaktion »Doku und Fiktion« beim Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb.

Überhaupt machten nicht wenige, die in Konradshöhe und dessen Umfeld einen Teil ihrer Jugend verbrachten und erste politischen Diskussionen führten, später beeindruckende Karrieren. So Pankau selbst, der zunächst als Landesvorsitzender der IG BAU in Berlin und Brandenburg wirkte und später in den Bundesvorstand der IG BAU aufrückte, Mark Roach, der bei ver.di den Bereich der Genossenschaftsbanken betreute oder auch Uli Dalibor, ebenfalls bei ver.di verantwortlich für die Bundesfachgruppe Einzelhandel. Aber auch eine Susanne Schäfer, die sich jahrelang sehr engagiert für den Berufsstand der Hebammen in Deutschland einsetzte, der langjährige Jugendsekretär des Berliner Landessportbundes Heiner Grupe-Brandi oder die heutige Berliner Innenstaatssekretärin Sabine Smentek.

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»Ort der Freiheit und des Ausprobierens«

Sabine Smentek, Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Inneres und Sport Berlin, erinnert sich:

»Ich kam Anfang 1980 zum ersten Mal nach Konradshöhe, zu einem Wochenendseminar«, erinnert sie sich. »Im September 1979 hatte ich bei der Berliner Sparkasse eine Ausbildung zur Bankkauffrau begonnen und war in die DAG eingetreten. Von da an war ich bis Mitte der 80er bestimmt jedes zweite, dritte Wochenende dort. Konradshöhe war unser Jugendfreizeittreff für das Wochenende. Ich engagierte mich in der DAG-Jugend, wurde Jugendvertreterin. In Konradshöhe machte ich nicht nur meinen »Jugendgruppenleiterschein«, sondern lernte praktisch alles, was man über die ergebnisorientierte Moderation heterogener Gruppen wissen muss.

»Konradshöhe war für mich ein Ort der Freiheit und des Ausprobierens. Mal habe ich ein Wochenendseminar moderiert, später eine Frauengruppe gegründet. Wenn wir am Wochenende zusammensaßen, um Anträge für den Gewerkschaftstag zu formulieren, habe ich gelernt, wie man politische Positionen vertritt. Das war meine politische Grundausbildung, vielleicht wichtiger als die eigentliche Gewerkschaftsarbeit bei der DAG.

Eine Zeitlang war ich im Vereinsvorstand des Trägervereins der Bildungsstäte Revisorin, und ich erinnere mich, wie aufregend es war, die Inventur durchzuführen. Zum ersten Mal so eine Verantwortung tragen! In meinem späteren Beruf als Organisationsberaterin hat mir das alles sehr geholfen.

Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir Bilder und Ereignisse, die meist ganz unpolitisch waren: Das Fischernetz, das an der Decke unseres Fetenraums hing oder wie sich meine Freundin an der verschlossenen Toilettentür die Nase gebrochen hat -- so wie man Dinge, die man als Jugendliche eben erlebt.

Der damalige Leiter Klaus Pankau sagte mir irgendwann: Sabine, wenn du in deinem Leben weiter politisch aktiv sein willst, dann schaffe dir ein ideologisches Rüstzeug. Das habe ich mir gemerkt, und es hat mein weiteres Leben geprägt. Ich bin nicht nur gewerkschaftlich aktiv geblieben, sondern auch 1984 in die SPD eingetreten, und die Grundwerte von damals bilden bis heute einen Korridor für meine politischen Entscheidungen. Ich bin ein "Gewerkschaftskind", das prägt meine Arbeit inhaltlich bis heute, etwa, wenn es um Arbeitnehmerrechte geht, auch die Art, wie ich auf Menschen zugehe und wie ich Menschen mag. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass man das nur in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit lernen kann, aber ich habe es dort gelernt, und zwar in Konradshöhe.

Dass sich Gewerkschaften die Jugendarbeit, wie sie sie in den 70er/80er Jahren gemacht haben, heute nicht mehr leisten können, ist dramatisch. Ich habe es damals so empfunden, dass wir als DAG-Jugend Innovation in die Gewerkschaft getragen haben. Wir waren ein bisschen der Stachel im Fleisch von denen, die alles einfach so weiter machen wollten wie bisher. Und so etwas braucht jede Organisation. Wenn man das vernachlässigt, schneidet man sich die eigene Zukunft ab.«
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Auch Computerkurse fanden damals in Konradshöhe statt, in einer Zeit da PCs für private Haushalte, geschweige denn Jugendliche, noch unerschwinglich waren. Jugendkultur war ein Thema, das mehr und mehr Raum einnahm. Konradshöhe und die DAG-Jugend waren vernetzt in sehr viele Richtungen – DAG, SFB-Rundfunkrat, Arbeitsamt, aber auch natürlich auch über den Landesjugendring in die anderen Jugendverbände und in die politischen Parteien. Der Soundtrack der beginnenden 80er Jahre kam von der band »Fehlfarben«: "Keine Atempause, Geschichte wird gemacht - es geht voran." Über 180 Häuser waren damals von jungen Menschen »instandbesetzt« und der Senat von Berlin fand kein Mittel diese Welle mit sinnvoller Sanierungs- und Wohnungsbaupolitik zu nutzen. Mark Roach, der Vereinsvorsitzende war in dieser Zeit auch Vorsitzender des Landesjungendring Berlins, Klaus Pankau sein Stellvertreter. »Ich weiß nicht mehr, wie viele Nächte Mark und ich damals im Tempodrom durchdiskutierten, denn wir versuchten zu vermitteln und mit den ›Besetzerräten«, langfristige Perspektiven besetzte Häuser zu entwickeln«, erinnert sich Pankau. Kooperationspartner waren neben den Jungendverbänden des Landesjugendrings, vor allem die Senatsverwaltung für Jugend, die SPD-Kreuzberg, damals mit einem Kreisvorsitzenden Walter Momper, dem späteren Regierenden Bürgermeister, die Aktivisten des Mehringhofs und parteilose, engagierte Einzelpersonen, wie etwa dem legendären Kreuzberger Drogisten, Werner Orlowsky. Es waren Bemühungen inmitten einer aufgeheizten Atmosphäre, auch strittig in der Gewerkschaft: denn es gab gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und Polizei, an deren Spitze der rechtslastige CDU-Innensenator Heinrich Lummer stand. Bei einer von Lummer brachial durchgesetzten Räumungsaktion im September 1981 war der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattey auf der Flucht vor der Polizei vor einen BVG-Bus geraten und tödlich verunglückt.

»Die Frage: ›Was hat das denn noch mit gewerkschaftlicher Bildung zu tun?‹, war zu dieser Zeit bestimmt nicht ganz unberechtigt«, räumt Pankau ein. »Doch natürlich beherrschten diese Themen damals die Diskussion unter allen Jugendlichen. Und die Auseinandersetzung damit machte die gewerkschaftliche Jugendbildungsarbeit in dieser Zeit spannend und authentisch.«

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»Für mich füllte sich das Bild von der Gewerkschaft endlich mit Leben«

Susanne Schäfer, Hebamme in Kleinmachnow und jahrelange Vorsitzende des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands e. V., , erinnert sich:

»Auf einer Jugendversammlung 1980 im Kaufhaus Wertheim am Ku'damm erzählte uns der Gewerkschaftssekretär Uli Dalibor von der Möglichkeit, einen Bildungsurlaub in der Jugendbildungsstätte Konradshöhe der DAG zu machen. Unser ganzes Ausbildungsjahr war von dieser Idee begeistert, und wir meldeten uns als komplette Berufsschulklasse zu einem Seminar an.

Für mich persönlich füllte sich nun das Bild von Gewerkschafts-Aktivitäten endlich sinnvoll mit Leben. Ich hatte vorher keine konkrete Vorstellung, was ich selbst ganz praktisch mit Gewerkschaft anfangen könnte.

Wir bekamen ordentliches Rüstzeug, um unsere Rechte und Pflichten als Auszubildende wahrzunehmen. Ich selbst bin dadurch ermutigt worden, bei der damals anstehenden Jugendvertreterwahl in unserem Wertheim-Haus zu kandidieren. Es folgte für mich eine langjährige Phase als Beschäftigtenvertreterin im Hertie-Konzern und des vielfältigen politischen Engagements innerhalb der DAG.

Spaß hatten wir natürlich auch. Ich bedaure, dass junge Menschen durch die Schließung dieser und vieler anderer gewerkschaftlicher Bildungsstätten heute leider nicht mehr so großartige Möglichkeiten haben, sich auf niedrigschwellige Weise an gesellschaftspolitisches Engagement heranzutasten, sich zu engagieren und ihre Demokratiefähigkeit mit Gleich- und auch Andersdenkenden im engagierten Diskurs zu üben.«
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In den 70er und 80er Jahren begann man in Konradshöhe auch, eine systematische Bildungsarbeit mit migrantischen Jugendlichen aufzubauen. »Ein verbreitetes Problem damals, war, dass Kinder türkischer Arbeitsmigranten in der Türkei beschult wurden und dann im Alter von 15 Jahren als Jugendliche ohne Deutschkenntnisse und anerkannten Schulabschluss nach Westberlin kamen«, erinnert sich Pankau. In Zusammenarbeit mit Berufsschulen und Pädagogen und gefördert von Berlins Ausländerbehörde entwickelte man, Kurse, die den Jugendlichen helfen sollten, einen Einstieg in eine Berufsausbildung zu finden. In den 80er Jahren nahm auch die langjährige enge Kooperation zum Thema Integration und Migration mit Barbara John ihren Anfang, die mehr als zwei Jahrzehnte lang das Amt der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats ausübte. Ein wichtiger Partner war auch das Berufsamt, in dem viele Jugendliche mit Migrationshintergrund eine Ausbildung erhielten.




Das gesamte Team um Klaus Pankau verstand sich als Teil des gesellschaftlichen Umbruchs, der die Bundesrepublik damals erfasst hatte, und nahm dabei in gewisser Weise eine Scharnierfunktion zwischen demokratischen Institutionen und neuen sozialen Bewegungen ein: »Wir waren vernetzt in zahlreichen Gremien, vom Landesjugendring, über die Industrie- und Handelskammer, den SFB-Rundfunkrat bis zum Arbeitsamt und hatten ein direktes Mandat im Landesjugendwohlfahrtsausschuß.

Westberlin hatte damals immer noch einen starken öffentlichen Sektor und viel M/E-Industrie, aber die Industrie wanderte langsam ab. Auch die Studentenbewegung von 68 befand sich in der Defensive, wirkte aber noch fort. Dass die DAG als Multibranchengewerkschaft Beschäftigte aus praktisch allen Wirtschaftszweigen von Öffentlichen und privaten Dienstleistungen bis zur Industrie organisierte, empfand Pankau als einen großen Vorteil: »Ich habe jeden Donnerstag an der DAG-Abteilungsleitersitzung teilgenommen, wo die leitenden Sekretäre der Branchen saßen, und war dadurch immer gut informiert über die wirtschaftliche Entwicklung und die Lage in den Betrieben.«

Das Team aus Konradshöhe wartete auch nicht, dass die Jugendlichen kamen, sondern sprach sie offensiv an und verteilte Flugblätter vor Schulen und Berufsschulen. »Wir gaben Tipps für Azubis und Berufsanfänger«, erinnert sich der Gewerkschafter Ulrich Dalibor, der sich über Jahrzehnte in der Bildungsstätte engagierte. »Dabei kamen uns unsere hervorragenden Kontakte zu Schulleitern und in der GEW aktiven Lehrern zugute, die mit uns zusammenarbeiteten.« Wann immer ein »Belegungsnotstand« in der Bildungsstätte entstand, gelang es, mit gemeinsamen Werbeaktionen von DAG-Jugendgruppen, Betriebsräten und vor allem den Sekretären der Landesjugendleitung, Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gewinnen.

Internationale Arbeit spielte eine wichtige Rolle. Die Umbrüche in Spanien nach Francos Tod, die portugiesische »Nelkenrevolution« – all das faszinierte auch die jugendlichen Teamerinnen und Teamer in Konradshöhe. Versöhnung mit den von den Nazis überfallenen Ländern, mit Frankreich und Osteuropa, war ein ernstes Thema, der Zweite Weltkrieg lag nur eine Generation zurück: »Wir waren Soldatenkinder«, sagt Pankau. Die Geschichte der Gewerkschaften und ihre Zerschlagung in Berlin 1933 war Gegenstand in den Seminaren, ebenso wie die Neugründung nach 1945. Viele Zeitzeugten lebten noch und berichteten über die Auseinandersetzungen zwischen FDGB (Berlin-Ost) und der Unabhängigen Gewerkschaftsopposition (UGO, der Vorläuferin des DGB in Berlin). Hilde Jechow war z.B. eine Zeitzeugin, die in einem Video der Medienwerkstatt lebhaft berichtete, wie sie als junge Frau in ihrer Unterwäsche wichtige Unterlagen und Schreibmaschinenteile von Ostberlin (FDGB in der Wallstraße) nach Westberlin (DAG in der Bernburger Straße) schmuggelte. Über Gewerkschaftskontakte, etwa mit der französischen CGT-FO, aber auch mit dem TUC in Großbritannien und den Gewerkschaften in Osteuropa wurden Jugendfahrten organisiert. Die »Neugier aufeinander war groß«. Und auch daran, dass die interessantesten Diskussionen oft »am Rande der offiziellen Treffen« zustande kamen. In Konradshöhe wurden eine Vielzahl internationaler Begegnungen vorbereitet, bei denen junge Leute etwa in Frankreich, England, Israel die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in anderen Ländern und ihre Art der Gewerkschaftsarbeit kennenlernten, Kontakte knüpften und ihren Horizont erweiterten. Gedenkstättenbesuche in der damaligen CSSR – so im KZ Theresienstadt und im Dorf Lidice, dessen Einwohner von deutschen Ordnungspolizisten und Wehrmachtssoldaten ermordet worden waren – wurden hier mit den TeilnehmerInnen ebenso vorbereitet, wie die Diskussionen mit den offiziellen Vertretern des tschechischen Gewerkschaftsbundes ROH.

Durchgeführt wurden die Seminare durch die jungen Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre der DAG- Landesjugendleitung und freiberufliche Teamerinnen und Teamer aus der Bildungsstätte – in der Regel handelte es sich um Studierende mit einem gewerkschaftlichen Bezug. Ihnen war es ein Anliegen, gewerkschaftliche mit politischer Bildung zu verzahnen. Mit Abschlussklassen der Oberschulen wurden Wochenseminare zur Berufsorientierung durchgeführt, auch wurden Einstellungstests simuliert und trainiert und Seminare für neue Azubis durchgeführt.

In die 1980er Jahre fällt auch die bauliche Erweiterung der Bildungsstätte, die durch die im Zuge des Jugendbildungsurlaubsgesetzes vor allem ab Mitte der 70er gestiegene Nachfrage notwendig geworden war. Finanziert wurde der Ausbau durch einen Teilverkauf von Grundstücksflächen und durch Zuschüsse, die der damalige DAG Bundesjugendleiter Rudolf Helfrich über die »Stiftung Deutsche Jugendmarke« organisierte. Nach der Modernisierung, die die technische Abteilung der GEHAG (die DAG hielt noch 33 Prozent der Aktien) hatte die Bildungsstätte nun 20 Zimmer, in denen bis zu 64 Personen übernachten konnten. Als eine von insgesamt acht anerkannten Jugendbildungsstätten in Berlin (West) war Konradshöhe nicht nur wegen seines inhaltlichen und didaktischen Profils attraktiv, sondern auch wegen Ausstattung und Lage: Gekocht wurde in der eigenen Küche. Das direkt an der Havel gelegene Grundstück bot viele Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten. All das trug dazu bei, dass sich Konradshöhe in Westberlin als wichtiger Ort außerschulischer Bildung etabliert hatte.





Nach dem Mauerfall: Die schwierigen 90er

III  Nach dem Mauerfall: Die schwierigen 90er


Im November 1989 fiel die Mauer. Deutschland-Ost und Deutschland-West wurden im Laufe des kommenden Jahres wieder eins – staatsrechtlich jedenfalls. Die gesellschaftliche Einigung brauchte mehr Zeit. Nirgendwo in Deutschland vollzog sich der Prozess aber so unmittelbar in allen Lebensbereichen wie in der 28 Jahre lang geteilten Stadt Berlin.

Das große Thema der neuen Zeit war für Konradshöhe die in den 1990ern grassierende Jugendarbeitslosigkeit. »Wir versuchten, dem Fatalismus und den Ohnmachtsgefühlen, unter denen viele junge Leute litten, etwas entgegenzusetzen«, erinnert sich Margit Hauck, die Nachfolgerin von Klaus Pankau, der wenige Wochen vor der »Wende« in den DGB –Landesbezirk gewechselt war. Margit Hauck, die heute bei ver.di Bildung + Beratung für bundesweite Seminare und Tagungen verantwortlich ist, war Anfang der 1980er noch während ihrer Studienzeit als Teamerin nach Konradshöhe gekommen und hat 1990 die Leitung der Bildungsstätte übernommen. Es ging ums Dranbleiben, ums Trotzdem-Versuchen, um das Nicht-Aufgeben, auch wenn man 80 erfolglose Bewerbungen verschickt hatte.




»Die Rahmenbedingungen hatten sich geändert, aber unsere Ziele nicht«, meint Margit Hauck. Es ging darum, »junge Menschen in ihrer Eigenständigkeit zu stärken, ihnen zu helfen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen«. Dazu gehörten auch die Schulungen für Jugendvertreter oder die Jugendleiterausbildung. Spielerisch wurde etwa die Organisation von Konferenzen und Versammlungen geübt, und auf diese Weise grundlegendes demokratisches Handwerkszeug auszuprobieren.

Auch die Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtsextremismus nahm breiten Raum ein. Brandenburgische Jugendliche mit Bomberjacken und weißen Schnürsenkeln saßen plötzlich zusammen mit türkischen Schülerinnen und Schülern in der Bildungsstätte. »Das war nicht spannungsfrei, aber wir haben versucht, produktive Verunsicherungen auszulösen, Impulse zu setzen«, sagt Margit Hauck. Sie erzählt von einem Seminar, bei dem es um Migration und Identität ging: »Auf einmal rief einer dieser Jungs völlig entnervt: ›Ja, was ist denn jetzt eigentlich deutsch?‹ Als er angekommen war, wusste er das ganz genau und jetzt war das plötzlich nicht mehr so klar. Da dachte ich: Wow, das ist eine ganze Menge für vier Tage Seminar.«




Sichtbar traten in den 90ern politische und kulturelle Veränderungen hervor, die der Jugendbildungsarbeit und gewerkschaftlichen Tätigkeit nach der Jahrtausendwende enorme Probleme machen sollten. »Am Anfang gab es noch verbreitet Vertrauensleute, gewerkschaftliche Betriebsgruppen, sogar Betriebsjugendgruppen und Jugendvertretungen, die mit uns Wochenendfahrten unternahmen und ganz selbstverständlich Mitgliederwerbung betrieben«, berichtet Margit Hauck. »Wir hatten immer das komplette erste Ausbildungsjahr von Karstadt am Hermannplatz bei uns zum Seminar. Und nicht selten waren die dann nach einer Wochenendfahrt zu hundert Prozent in der Gewerkschaft organisiert.«


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»Anfang der 90er gab es noch viele junge Leute, die sich individuell für Seminare anmeldeten. Das gab es am Ende praktisch gar nicht mehr.« (Margit Hauck)

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Doch zunehmend wurde es merklich schwerer, junge Leute für die Gewerkschaften zu gewinnen. »Hauptsache Arbeit« wurde zum geflügelten Wort. Bildungsurlaub, die große Reformerrungenschaft der 70er Jahre, wurde nun deutlich weniger in Anspruch genommen. »Anfang der 90er gab es noch viele junge Leute, die sich individuell für Seminare anmeldeten. Das gab am Ende praktisch gar nicht mehr.« Was tun? »Wir fingen an, stärker mit Schulen und Oberstufenzentren zu kooperieren, schwärmten aus in die Berufsschulen. So schafften wir es, dass ganze Klassen und Jahrgänge zu unseren Veranstaltungen kamen.«

Schwieriger wurde auch die Finanzierung. Der »Sonderplan Berlin« – eine Zusatzförderung aus dem Bundesjugendplan – wurde nach der Vereinigung ersatzlos gestrichen. Mitte der 1990er nahmen die vier DGB-Gewerkschaften ÖTV, HBV, IG Medien und die bislang eigenständige DAG angesichts sinkender Mitgliederzahlen Kurs auf die Fusion. Jede der Ursprungsgewerkschaften brachte ihre eigenen Bildungsstätten mit, und es war klar, dass es Schließungen geben würde und geben musste.




Unterm Dach von ver.di – Überlebenskampf auf verlorenem Posten

IV  Unterm Dach von ver.di – Überlebenskampf auf verlorenem Posten


Die anderthalb Jahrzehnte der Jugendbildungsstätte Konradshöhe unterm Dach der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft sind von schwieriger werdenden Rahmenbedingungen und schwindendem Rückhalt der Gewerkschaft gekennzeichnet. »Es war deutlich zu spüren, dass sich mit der Fusion etwas Grundlegendes verändert hatte«, erinnert sich Margit Hauck. »Dieses bei der DAG nie in Frage gestellte Selbstverständnis dazuzugehören – das war plötzlich nicht mehr da.«

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»Bildungsarbeit, zumal allgemeine politische, soziale und kulturelle Jugendbildung, verlor zunehmend den Status einer gewerkschaftlichen Kernaufgabe.«

Peter Bohl, Leiter der Bildungsstätte von 2002 bis 2008, erinnert sich:

»Zum 1.1.2002 übernahm ich die Leitung der Bildungsstätte und die Geschäftsführung des Trägervereins. Die DAG war abgewickelt, präsent aber noch die Personen, die bereits in der Vergangenheit für deren gewerkschaftliche Anbindung verantwortlich waren – allen voran die damalige Jugendsekretärin im Landesbezirk Berlin-Brandenburg. Petra Ringer und der ehemalige DAG-Landesleiter Hartmut Friedrich, nun Mitglied der Landesbezirksleitung sowie Marianne von Heusinger, auf Bundesebene zuständig für die ver.di-Bildungszentren. Solche Personen waren es, die die Anbindung an und die Einbindung in ver.di aktiv unterstützten. In den Folgejahren waren wir dadurch gut integriert in die bundesweite Vernetzung der ver.di-Bildungszentren als auch in die Zusammenarbeit mit den Fachbereichen im Landesbezirk. Zahlreiche junge GewerkschaftsaktivistInnen, nun auch aus anderen Quellgewerkschaften, bildeten bereits einen starken ehrenamtlichen Kader zur Durchführung der seit Jahren anerkannten und von der DAG ererbten Bildungsarbeit in Konradshöhe.

Aber: Es mangelte an Anerkennung durch die Strukturgremien der Organisation ver.di: Auf Bundesebene wurden bereits strukturelle Einschnitte vorgenommen und gewerkschaftliche Bildungszentren abgewickelt – Bildungsarbeit, zumal allgemeine politische, soziale und kulturelle Jugendbildung, verlor zunehmend den Status einer gewerkschaftlichen Kernaufgabe.

Der Bezirk Berlin erteilte gar in Person von Gabi Lips als der damals Zuständigen für Jugend und Bildung systematisch eine generelle Absage an jede Form der Zusammenarbeit (Zitat: »Ihr gehört nicht zu uns«) – stillschweigend gedeckt vom Bezirksgeschäftsführer Roland Tremper. Die bezirklichen Jugendsekretärinnen waren angewiesen, Konradshöhe für Aktivitäten und Seminare zu meiden und diese Haltung in den gewerkschaftlichen Jugendgremien durchzusetzen. In Abstimmung mit dem DGB-Jugendsekretär Daniel Wucherpfennig sollte sich Konradshöhe nicht zur Partnerin der DGB-Jugendbildungsstätte Flecken-Zechlin etablieren können, sondern wurde nicht nur innerhalb der Gewerkschaftsjugend als deren Bedrohung inszeniert. Ich war mir mit dem damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Scholz bei dessen Besuch in Konradshöhe einig: verpasste Chancen.

Zeitgleich befand sich auch das Land Berlin 2002 in der Haushaltskonsolidierung und stellte die Landesförderung der außerschulischen politischen Bildung aller damals acht vom Land geförderten Jugendbildungsstätten in Frage, darunter beide gewerkschaftliche Einrichtungen: wir waren damit doppelt existenziell gefährdet.

Bei Antritt meiner Leitungsaufgabe wähnte ich mich zunächst in der Falle, tatsächlich ungewollt »Abwicklungsgeschäftsführer« (Zitat Gabi Lips bei meinem Antrittsbesuch 2002) geworden zu sein: Der erste von mir zu verantwortende Jahreshaushalt 2002 (Bedarf 330 Tsd. EUR) hatte eine Unterdeckung in Höhe von ca. 50 Tsd. EUR – es drohte Insolvenz. Nur mit Unterstützung der oben genannten Förderer konnten schnelle Übergangslösungen gefunden werden, die dieses Defizit bis zu ersten Erfolgen in der angestrebten Drittmittelakquisition überbrücken ließen.

Die strukturelle Unabhängigkeit von ver.di als eingetragener Verein barg Risiken, aber als anerkannter Träger der Jugendhilfe zugleich Chancen: Falls und so lange wir künftig ausreichend ergänzende Fördermittel akquirieren würden, sollte unsere Arbeit Perspektive haben: Es gelang bereits 2002 und in schneller Folge im Anschluss drei jeweils mehrjährige einander zeitlich überschneidende Projektförderungen aus EU- und Bundesmitteln für Berlin und Brandenburg zu akquirieren, welche den Jahreshaushalt auf 500-600 Tsd. EUR p. a. wachsen ließen und damit von roten in schwarze Zahlen führte. Eines dieser Projekte, die »Ausbildung betrieblicher Mediatoren« für die Stadtverwaltung in Eisenhüttenstadt sowie des dortigen EKO-Stahlwerks, wurde aktiv mit initiiert vom damaligen Bildungssekretär des DGB, Marco Steegmann, heute ver.di, und Dieter Scholz.

Mehr noch: Gerade diese aus Bundes- und EU-Mitteln durchgeführten Konradshöhe-Projekte wurden zwischen 2002 und 2008 bundesweit geachtete »Markenzeichen der ver.di Jugendbildungsarbeit« und zu einem innerhalb der Organisation völlig unterschätzten Beitrag zur Stärkung der Außenwirkung unserer Gewerkschaft: Sie wurden alle in Publikationen der Zuwendungsgeber als »Best-Practice« der Jugendbildungsarbeit mit systematischem Bezug zur Arbeitswelt bundesweit öffentlich gewürdigt. Darunter »Energon – Berufseinstiegsmentoring«, damals noch ein »Pilotprojekt« zur Vernetzung von Berliner Verwaltungen und Betrieben mit Gesamt-, Berufs- und Gemeinschaftsschulen. Heute bildet Mentoring einen bundesweit eingeführten Standard in der Berufsorientierung.

Die Nähe zur Arbeitswelt, welche die Bildungsstätte nur mit deren Anbindung an ver.di und DGB und der tatkräftigen Unterstützung wohlwollender Kolleginnen und Kollegen sicherstellen konnte, bildete ein Alleinstellungsmerkmal, welches sich zu einer Erfolgsgarantie für gewerkschaftlich angebundene Bildungsarbeit hatte mausern können – zermürbenden Widerständen und andauernden Anfeindungen aus den eigenen Reihen zum Trotz.

Das Konzept der Akquise arbeitsweltorientierter Bildungsprojekte war bei meinem Weggang Ende 2008 gut etabliert und zum Standbein der Finanzierung von Konradshöhe geworden und konnte von der nachfolgenden Leiterin Elke Weißer mit weiteren fachlichen Schwerpunkten erfolgreich fortgesetzt werden.

Wenn da nicht auch immer das Veräußerungspotential des von ver.di zur Verfügung gestellten Standortes in traumhafter Lage mit Blick auf die Havel als Damoklesschwert über der Bildungsstätte gehangen hätte – trotz teilweise erheblicher Investitionen in das Gebäude: Konradshöhe war mit Gründung der ver.di zu »Tafelsilber« geworden – bereits ab 2002 eine durchgängige Bedrohung, die bei mangelnder Anerkennung durch unsere Gewerkschaft die dortigen Leistungen von heute auf morgen in Frage stellen konnte.

Immerhin erst 14 Jahre nach Gründung von ver.di sollten sich diejenigen gewerkschaftlichen Akteure durchgesetzt haben, die Konradshöhe von Anfang an ausgrenzen wollten – hervorragende politische, soziale und kulturelle Jugendbildung in gewerkschaftlicher Anbindung hin oder her.
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Mit der ver.di-Gründung hatten sich die finanzielle Situation grundlegend verschlechtert. War Konradshöhe als »Haus der DAG-Jugend« noch eine voll ausfinanzierte gewerkschaftliche Bildungsstätte gewesen, gewährte ver.di keinerlei Zuschüsse mehr für das operative Geschäft. Jährlich flossen lediglich 100.000 Euro aus dem Bildungsetat der ver.di als Mietzuschuss an die eigene Immobilienverwaltungstochter IVG. Für ver.di war das ein »durchlaufender Posten« – für die Bildungsstätte bedeutete es Mietfreiheit.

Personal- und Betriebskosten jedoch mussten aus den laufenden Einnahmen des Seminarbetriebs oder durch Weitervermietung bestritten werden. Zugleich setzte sich der, bereits nach der Jahrtausendwende begonnene Trend zur Kürzung öffentlicher Förderung im Bereich der Jugendhilfe fort. Elke Weißer, die 2009 die Leitung der Bildungsstätte übernahm, erinnert sich: Obwohl sie als »pädagogische Leiterin« eingestellt wurde, stellte sich schnell heraus, dass vor allem ihre Kompetenz im Einwerben öffentlicher Förder- und Projektmittel gefragt war.

Im Großen und Ganzen finanzierte sich die Jugendbildungsstätte unterm Dach von ver.di zu je einem Drittel:

- durch öffentliche Zuschüsse des Berliner Senats
- Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF)
- aus dem »wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb«.

2010 wurde dieses Modell durch die EU-Kommission in Frage gestellt, und die ESF-Mittel wurden gesperrt. Innerhalb von sechs Wochen brach damit ein Drittel der Finanzierung weg. »Damals war zum ersten Mal die Atmosphäre durch Angst vor Schließung geprägt«, erinnert sich Elke Weißer. Im Handumdrehen musste ein Konzept her, um die Finanzlücke zu schließen, was auch gelang. Damit gab es dann auch die Zusage ver.dis notwendige Investitionen zu tätigen, um die kommenden zehn Jahre Jugendbildungsarbeit abzusichern. 400.000 € flossen und brachten erhebliche Verbesserungen an der Jugendbildungsstätte unter Dach und Fach.

Grundsätzlich blieb Konradshöhe dem Ansatz treu, »Hilfe zur Lebensorientierung aus der Sicht von Auszubildenden und jungen Beschäftigten« zu geben, betont Elke Weißer. So etwa für junge Leute, die damals keinen betrieblichen, dualen Ausbildungsplatz bekommen hatten und in überbetrieblichen Ausbildungszentren lernten. Zusammen mit dem ver.di-Fachbereich Handel wurden Kontakte zu Unternehmen geknüpft, um ihnen Praktika-Stellen zu organisieren und auf diese Weise erste Einblicke in den betrieblichen Alltag zu vermitteln.

Mentoringprogramme – wie das 2010 vom ESF ausgezeichnete Programm »Energon« – wurden entwickelt, bei denen erfahrene Helferinnen und Helfer Jugendliche bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz zur Seite standen. Viele dieser ehrenamtlichen Mentorinnen und Mentoren wurden dabei aus Jugend- und Auszubildendenvertretungen heraus rekrutiert, und nicht wenige von ihnen hatten ihre theoretischen Grundlagen der betrieblichen Interessenvertretung in Konradshöhe erlernt. Jetzt begleiteten sie neue Azubis durch das erste Ausbildungsjahr, halfen, Schwierigkeiten zu meistern, Frustration zu verarbeiten und durchzuhalten, statt hinzuschmeißen. Und tatsächlich gelang es, so die Abbrecherquoten signifikant zu senken. »Wir haben immer versucht, Projekte aus dem Bedarf heraus zu entwickeln, also orientiert an den Bedürfnissen, die uns Jugendliche mitgeteilt haben«, erinnert sich Elke Weißer. »Wir waren immer gut belegt, die Jugendlichen kamen vor allem durch Mundpropaganda.«




Unter dem stärker werdenden finanziellen Druck war eine an gewerkschaftlichen Standards orientierte Bezahlung des Personals nicht mehr möglich. 2014 kam es darüber zum Konflikt. Kurz gesagt wollten die freiberuflich tätigen Teamerinnen und Teamer höhere Honorare. »Als Leiterin hatte ich Verständnis für die Forderungen, aber ich hatte schlicht nicht das Geld«, erinnert sich Elke Weißer. Dennoch suchte man nach einem Kompromiss. Ein Teamerrat wurde gebildet, eine Rahmenvereinbarung getroffen, in der die Leitung der Bildungsstätte den Teamenden eine bestimmte Anzahl von Veranstaltungen pro Jahr verbindlich zusicherte und sich verpflichtete, nicht mit anderen, externen Lehrkräften zusammenzuarbeiten.

Der Kompromiss hielt nicht lange. Kaum war die Vereinbarung unterzeichnet, traten die Teamer in den Streik. Darauf kündigte die Bildungsstätte die Vereinbarung. Ein neues Team musste aufgebaut werden, wieder überwiegend aus Studierenden. »Diesmal machten wir von Anfang an klar, dass das keine echte freiberufliche Tätigkeit sein konnte«, betont Elke Weißer. Der Neuanfang funktionierte, doch der politische Schaden blieb: Der Teamenden-Arbeitskreis von ver.di hörte auf zu existieren, das Gros der ehemals dort engagierten jungen Leute wandte sich frustriert von der Gewerkschaft ab.

2014 war auch das Jahr, in dem zum ersten Mal organisationsintern und informell die Rede aufkam, ver.di wolle die Jugendbildungsstätte Konradshöhe schließen. Anfangs mutete das noch absurd an, denn erst 2012/2013 hatte es nochmals eine große Modernisierungsinvestition von rund 400.000 Euro gegeben. Auch hatte sich der Verein nach der Beinahe-Insolvenz von 2010/2011 finanziell wieder aufrappeln und konsolidieren können. Es gab 20 Festangestellte, die dauerhaft ausschließlich über Projektmittel bezahlt werden konnten, eine durchschnittliche Belegungsquote von rund 80 Prozent und die Bildungsstätte schaffte es sogar die vorgeschriebenen Rücklagen von drei Monatsgehältern zu bilden.

Dennoch wurde klar, dass Konradshöhe in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft keine Lobby mehr hatte. Es kam zu ständigen Wechseln im Vorstand des Trägervereins, die Beteiligung an Mitgliederversammlungen ging Jahr für Jahr zurück.

Einen letzten Lichtblick gab es dennoch, kurz bevor in Konradshöhe für immer die Lichter ausgingen. Im September 2016 trafen sich hier – auf Initiative des Weltvorstands des Handelssektors des internationalen Gewerkschaftsbundes UNI Global Union, dem Ulrich Dalibor als Stellvertretender Vorsitzender angehörte – junge Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus drei Kontinenten. Eine Woche lang diskutierten die rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Asien, Amerika und Europa über die wichtigen Trends ihrer Branche wie Onlinehandel, Konzentrationsprozesse und Rationalisierung der Logistikketten.




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Exkurs: »Seminar für Nachwuchsführungskräfte der Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts«

»Für mich war das eine großartige Chance zu sehen, wie andere Organisationen in vergleichbaren Situationen arbeiten«, sagte die 30jährige Norika aus Sri Lanka. In der Hauptstadt Colombo organisiert die junge Postangestellte gewerkschaftliche Bildungsveranstaltungen für Supermarktbeschäftigte – ehrenamtlich in ihrer Freizeit. »Ein Treffen mit einer so breiten Beteiligung aus so unterschiedlichen Erdteilen – das habe ich noch nicht erlebt«, so Ryan (29), der in New York als »Education organizer« in einem »Workers center« arbeitet und Einzelhandelsangestellte in Abendkursen über ihre Rechte aufklärt. Meist seien das prekär Beschäftigte, die nie Kontakt zu Gewerkschaften hatten, geschweige denn je in den Genuss von Tarifverträgen gekommen sind. »Verglichen damit geht es uns in Schweden großartig«, meinte Josefin (25), LKW-Fahrerin bei einem Lebensmittelgroßhändler aus Vasteras bei Stockholm. »Aber es hat mich daran erinnert, dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen.«

(aus: junge Welt, 20. September 2016)
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Deutlich wurde: Auch in Zeiten von Internet und »Social media« braucht man reale und nicht nur virtuelle Diskussionen, braucht man über Chats und Mailinglisten hinaus Gesprächsrunden, bei denen man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt. Und man braucht Orte, an denen man sich treffen kann. Völlig unverständlich war es für die Teilnehmenden aus aller Welt, dass ver.di beabsichtigte, die Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe zum Jahresende zu schließen.

Mit dem UNI Commerce-Jugendcamp im September 2016 zeigte sich zum letzten Mal exemplarisch, welche Möglichkeiten ver.di in Konradshöhe hatte und was die Gewerkschaft zu verspielen drohte. Doch die Entscheidung zur Schließung war längst gefallen und unumkehrbar.

Anfang 2017 hing ein Transparent vor dem Grundstück der mittlerweile geschlossenen Jugendbildungsstätte. Auf den ersten Blick sah es aus wie die Werbeplane eines Bauträgers. Aber noch wurden hier, in der Stößerstraße 18 in Berlin-Konradshöhe, keine Luxuswohnungen errichtet. »Hier verbauen wir uns unsere Zukunft« stand darauf, und statt Bauherren waren »Ab-Bauherren« darauf verzeichnet: Frank Bsirske, Frank Werneke, Christoph Meister – alle drei Mitglieder im ver.di-Bundesvorstand. Als »Generalunternehmer« firmierte die Immobilien- und Vermögensverwaltung von ver.di (IVG/VVG).





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Mit dem UNI Commerce-Jugendcamp im September 2016 zeigte sich zum letzten Mal exemplarisch, welche Möglichkeiten ver.di in Konradshöhe hatte und zu verspielen drohte. Doch die Entscheidung zur Schließung war längst gefallen.

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Nach 56 Jahren hatte die ver.di-Spitze – auf dem scheinbar unpolitischen, jedenfalls aber undemokratischen Umweg einer »unternehmerischen Entscheidung« der eigenen Immobilientochter – beschlossen, die gewerkschaftliche Jugendbildungsstätte in Konradshöhe zu schließen. Nicht, weil es dort kein Interesse mehr an politischer Bildungsarbeit für junge Leute gab. Sondern weil man angesichts sinkender Mitgliederzahlen und Beitragseinnahmen sowie härter werdender Arbeitskämpfe Geld brauchte. Und wie überall in Berlin explodierten in Konradshöhe die Grundstückspreise. Das direkt am Havelufer gelegene rund 5000 Quadratmeter große Areal gilt als Filetstück, auf dem hochpreisige Eigentumswohnungen entstehen könnten, wie sie im »Luftkurort« Konradshöhe, zwischen Tegeler Forst, Tegeler See und Oberhavel seit ein paar Jahren überall gebaut werden.





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»Das Veräußerungspotential des von ver.di zur Verfügung gestellten Standortes in traumhafter Lage mit Blick auf die Havel« hing »als Damoklesschwert über der Bildungsstätte«, sagt Peter Bohl, Leiter der Bildungsstätte von 2002 bis 2008. »Konradshöhe war mit Gründung der ver.di zu ›Tafelsilber‹ geworden ...«

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Erinnern wir uns: 65.000 DM hatte die DAG 1957 für das Grundstück bezahlt. Heute kann die ver.di-Vermögensverwaltung bei einem Verkauf ein Vielfaches dieses Preises erzielen. Von bis zu elf Millionen Euro war gerüchteweise die Rede – eine Zahl, die die Pressestelle des Bundesvorstands auf Nachfrage nicht kommentieren wollte und die trotz expandierender Immobilienblase übertrieben sein dürfte.

Angesichts der verlockenden Aussichten, das ehemalige DAG-Grundstück zu versilbern, stießen alle gewerkschafts- und jugendpolitischen Argumente der Trägervereins und seiner Unterstützer und Unterstützerinnen auf taube Ohren.

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 »ver.di ließ die ver.di-Jugendbildungsstätte fallen wie eine heiße Kartoffel«

Uli Dalibor, ehemaliger Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel bei ver.di, erinnert sich:

»Der tatsächlich letzte Vereinsvorstand der ›ver.di JugendBildungsstätte Berlin – Konradshöhe e.V.‹ war angetreten. Natürlich um den letzten Strohhalm zu suchen, um Konradshöhe zu retten aber auch, um – wenn alle Stricke reißen sollten – den Verein wenigstens ordentlich abzuwickeln und diesen letzten Schritt nicht einem amtlich bestellten Liquidator zu überlassen. Mit Hilfe der Geschäftsführerin gelang das sicher vorbildlich. Die historischen Unterlagen wurden der Friedrich-Ebert-Stiftung übergeben, Die vielen Gebrauchs-Materialien vom PC, über Video-Kameras bis hin zur Dunstabzugshaube aus der Küche und dem reichhaltigen Geschirr wurde befreundeten Jugendeinrichtungen, ja, auch der DGB-Jugendbildungsstätte Flecken-Zechlin, zur Verfügung gestellt. Der direkte Ansprechpartner der ver.di-Vermögensverwaltung machte seinen Job gegenüber dem Vereinsvorstand ordentlich und sachgerecht, ja sogar konstruktiv. Die Senatsjugendverwaltung von Berlin verdient großes Lob, hat sie doch alle Möglichkeiten erwogen, um wenigstens die ausgezeichnete Jugend-Arbeit zu erhalten. Leider erwiesen sich die ins Gespräch gebrachten Optionen nach intensiver Prüfung durch den Vereinsvorstand leider als nicht geeignet.

Beschämend war das Verhalten von ver.di-Bundesvorstand und ver.di-Landesbezirksleitung. Sie ließen die ver.di-Jugendbildungsstätte in Konradshöhe fallen wie eine heiße Kartoffel. Die KollegInnen die in Konradshöhe arbeiteten, bekamen keinerlei Unterstützung von ver.di – auch wenn der ver.di Landesbezirk in einer Presseerklärung das Gegenteil behauptete. Als TeilnehmerInnen aus Konradshöhe am Sitz des ver.di-Bundesvorstands gegen die Schließung protestierten, wurden sie angelogen, sie könnten ihre Arbeit an einem anderem Ort fortsetzen.«
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Die Arbeitsverhältnisse der verbliebenen zwölf Beschäftigten des Hauses wurden zum 31. März 2017 gekündigt. Arbeitsrechtlichen Beistand – wie es für Gewerkschaftsmitglieder Standard ist – gewährte ihnen ver.di nicht. Überhaupt schob der Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft dem »freien Träger« jede Verantwortung zu: »Bei dem Haus in Konradshöhe handelt es sich nicht um eine Bildungsstätte von ver.di, sondern um eine im Besitz der IVG/VVG befindliche Immobilie, die vermietet wurde«, hieß es dort auf Nachfrage. »Es handelt sich um Angestellte des Vereins, nicht von ver.di.«




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Dokumentiert:

Antwort der Pressestelle der ver.di-Bundesverwaltung vom 8. November 2016 auf unsere Fragen zur Schließung der Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe

Frage: Ist es richtig, dass die ver.di-Immoblienverwaltung den Mietvertrag für die jbs Konradshöhe zum 31.12.2016 gekündigt hat? Wenn ja: Aus welchen Gründen? Gab es eine Abwägung von Pro und Contra? Welches Gremium hat die Schließung beschlossen?

Antwort: 2011 wurde die Geschäftsführung des Vereins JBS Konradshöhe e.V. von der Vermögensverwaltung der ver.di GmbH über das Ergebnis einer wegen baulicher Mängel notwendigen technischen Bewertung unterrichtet. Die bauliche Situation der Immobilie wurde insgesamt mit interner und externer Expertise bewertet. Das Ergebnis: Notwendige Maßnahmen für einen dauerhaften Betrieb würden das Haus in seiner gesamten Struktur betreffen. Das wäre mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden. Es war daher klar, dass eine Verlängerung des Mietverhältnisses nicht über 2016 möglich sein würde.

Um dem Verein ausreichend Zeit für die Suche einer neuen Perspektive zu geben, wurden dringend notwendige Reparaturen durchgeführt, die den Betrieb für die folgenden fünf Jahre störungsfrei sicherstellen sollten.

2014 wurde die Geschäftsführung des Vereins an die vereinbarte Nutzung bis Ende 2016 erinnert. Beim Verein JBS Konradshöhe handelt es sich nicht um eine von ver.di betriebene Bildungsstätte, es besteht stattdessen ein Mietverhältnis zwischen der Immobilienverwaltungsgesellschaft und Vermögensverwaltungsgesellschaft von ver.di. - der Eigentümerin der Immobilie - und dem Verein JBS. Konradshöhe e.V.

Frage: Wie beurteilt der Bundesvorstand die Arbeit der Bildungsstätte? Um der Frage einen etwas aktuelleren Bezug zu geben: Erst im September fand in der jbs ein einwöchiges Seminar mit jungen Führungskräften (Betriebsräten, Vertrauensleuten, Gewerkschaftssekretären) der Handelssektion von UNI Global Union aus etwa 30 Ländern aus vier Kontinenten statt (...). Betrachtet ver.di so etwas als eine wichtige strategische Angelegenheit oder nicht? Werden solche Meetings künftig in privaten Tagungshotels abgehalten? Glaubt der Bundesvorstand, dass das funktioniert?

Antwort: Wir unterstützen die Arbeit des Vereins (…) und auch die neue Kooperation mit dem Jugend- und Kulturzentrum »Die Pumpe« der AWO, Landesverband Berlin, die ab April 2017 in Berlin-Mitte verabredet ist. Damit finden zwei Träger der Jugendbildung zueinander. Gruppen, Partner und Teamende des Vereins werden seit zwei Monaten auf die Fortführung der Seminare in den Seminarräumen der Pumpe hingewiesen. Vor diesem Hintergrund hat der Verein auch um eine Nutzungsverlängerung bis zum 01.04.2017 gebeten, was wir grundsätzlich ermöglichen.

Im Übrigen: ver.di selbst betreibt neun eigene Bildungszentren, darunter eine spezielle Jugendbildungsstätte in Naumburg (bei Kassel), wir haben in unseren Bildungszentren ausreichende Kapazitäten, es finden in unseren Bildungszentren regelmäßig internationale gewerkschaftliche Seminare und Treffen statt. Es gibt also keine Notwendigkeit, dazu in Tagungshotels auszuweichen.

Frage: Welche Kosten entstehen der Organisation jährlich für den Unterhalt der jbs Konradshöhe?

Antwort: ver.di unterstützt den Verein durch die Übernahme der Mietkosten. Eine entsprechende Zusage gilt ebenfalls für 2017. Zur Ausgestaltung der weiteren Kooperation finden derzeit Gespräche statt.

Frage: Kann man im Kontext des Berliner Immobilienmarktes die Arbeit der Bildungsstätte zu geringeren Kosten tatsächlich an anderer Stelle in der Stadt fortführen? Wenn ja: Wo?

Antwort: Darum geht es in diesem Fall nicht. Der Verein hat eine neue Adresse. s.o.

Frage: Es gibt einen Beschluss des Gewerkschaftsrates von 2002 zu Fortführung und Erhalt der jbs Konradshöhe. Gibt es jetzt einen Beschluss des Gremiums zur Schließung der Bildungsstätte? Wenn nicht: Kann dieser Beschluss nach Ansicht des Bundesvorstandes durch eine einfache Entscheidung der Immobilienverwaltung ohne demokratische Diskussion aufgehoben werden?

Antwort: Bei dem Haus in Konradshöhe handelt es sich nicht um eine Bildungsstätte von ver.di, sondern um eine im Besitz der IVG/VVG befindliche Immobilie,die vermietet wurde. Über die Beendigung des Mietverhältnisses hat der Aufsichtsrat der VVG entscheiden.

Frage: Was wird aus den Angestellten der jbs?

Antwort: Es handelt sich um Angestellte des Vereins, nicht von ver.di. Gleichwohl versuchen wir als Organisation zusammen mit dem Verein und den Beschäftigten neue Perspektiven zu finden. Welche Perspektiven sich für die Beschäftigten im Zusammenhang mit der neuen Kooperation ergeben, kann sicher der Vereinsvorstand beantworten.

Frage: Was für Pläne hat ver.di mit der Liegenschaft der jbs? Wird das Grundstück zum Höchstgebot verkauft? Ist dem Bundesvorstand bekannt, dass der bislang immer noch einigermaßen sozial gemischte Ortsteil Berlin Konradshöhe in den letzten Jahren unter einen starken Druck zur Errichtung privater Luxuseigentumswohnungen gekommen ist? Will ver.di eine solche Entwicklung jetzt auch noch begünstigen? Ist es im Sinne unserer gewerkschaftlichen Grundwerte, wenn auf dem Wassergrundstück in der Stößerstraße künftig keine sozial benachteiligten Jugendlichen mehr politische Bildung und Solidarität erfahren, sondern Nobelherbergen für Reiche errichtet werden? (...)

Antwort: Wir geben grundsätzlich keine Auskünfte über Vermögenswerte und die Verwendung von Liegenschaften.

Frage: Nach welchen Kriterien wird in der Organisation über die Fortführung bzw. Schließung von Bildungsstätten entschieden? Und wer entscheidet darüber - die Immobilienverwaltung, der Bundesvorstand oder der Gewerkschaftsrat?

Antwort: Im genannten Fall ging es nie um die Schließung einer ver.di-Bildungsstätte, sondern um das Organisieren einer neuen Wirkungsstätte für einen freien Träger. Die ist nun gefunden.
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