I Gründung und Aufbau – die 60er Jahre
Alles begann damit, dass Mitte der 1950er Jahre der Landesverband der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG) in Berlin (West) feststellte, dass er zu wenig Möglichkeiten für Jugendbegegnungen und gewerkschaftliche Jugendbildung hatte. Der damalige DAG-Landesjugendleiter und spätere Innensenator Peter Ulrich (1928-2011) setzte sich für den Aufbau eines DAG-Jugendhauses ein, das als Unterbringungsstätte für DAG-Jugendgruppen aus Westdeutschland, aber auch als Begegnungsort mit Jugendlichen aus der DDR dienen sollte.
Auch wenn der kalte Krieg bereits in vollem Gange war und die Teilung Deutschlands auf lange Sicht unumkehrbar schien: Noch war die Grenze zwischen Ost und West durchlässig, im geteilten Berlin mehr als anderswo.
------------------------------------------------------------------------
Exkurs:
Die 50er und 60er in WestberlinSeit 1957 war die SPD stärkste Partei in Westberlin und stellte den Regierenden Bürgermeister. Willy Brandt, der bis 1966 an der Spitze des Berliner Senats stand, führte die Stadt nicht nur durch die außenpolitisch krisengeschüttelte Zeit vor und nach der Abriegelung der Berliner Westsektoren durch die sowjetische Armee und der 1962 darauffolgenden Kuba-Krise. Der von ihm geführte SPD-CDU-Senat war nach dem Mauerbau 1961 auch mit massiven wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Durch die Grenzschließung fehlen in Westberlin über Nacht mehr als 50.000 Arbeitskräfte, die zuvor aus Ost-Berlin gependelt waren. Unternehmen und qualifizierte Arbeitskräfte wanderten nach Westdeutschland ab.
Obwohl Willi Brandt vom CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem bayrischen CSU-Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß aufgrund seiner Emigration während der NS-Zeit als »Vaterlandsverräter« verunglimpft wurde, schaffte er es, umfangreiche Finanzhilfen der Bundesrepublik für die »Frontstadt« auszuhandeln, mit deren Hilfe es dem Senat gelang, die Lage zu stabilisieren. Zahlreiche neue Investitionen in Infrastruktur- und Verkehrsprojekte, in den Wohnungs- und Städtebau sowie in Kultureinrichtungen erhöhten die Attraktivität Westberlins. Westdeutsche Berlinbesuche für Schulkassen wurden vom Bund gefördert, Jugendliche kamen, um in Berlin zu studieren – und auch um dem Wehrdienst zu entgehen. Migranten aus der Türkei kamen als »Gastarbeiter« nach Westberlin.
Bei der Abgeordnetenhauswahl 1963 erzielte die SPD mit Brandt an der Spitze ihr bestes Ergebnis aller Zeiten: 61,9 Prozent. Nunmehr in Koalition mit der FDP intensivierte Brandt seine »Politik der kleinen Schritte«, die außenpolitisch auf Entspannung setzte und innenpolitisch auf Demokratisierung sowie die Verbesserung des Zugangs zu Kultur und Bildung für breite Gesellschaftsschichten.
------------------------------------------------------------------------
DAG-Landesjugendleiter Peter Ulrich fand Unterstützung bei Siegfried Aufhäuser, bis 1958 Vorsitzender des DAG-Landesverbandes Berlin. Gemeinsam mit Fritz Rettig vom DAG-Bundesvorstands ergriffen sie die Initiative und trieben die Suche nach einem geeigneten Grundstück für ein Haus der DAG-Jugend voran. Mitte der 50er ergab sich dann eine Gelegenheit. Am 26. Juni 1957 kaufte die DAG einer privaten Erbengemeinschaft ein aus mehreren nebeneinanderliegenden Flurstücken in der Stößerstraße 18-23, der Rohrweihstraße 7 und 9 sowie zweier Wiesen an der Havel bestehendes Grundstück in Berlin-Konradshöhe ab. Die DAG zahlte für das insgesamt 7205 Quadratmeter große Grundstück damals den heute unvorstellbar niedrigen Preis von 65.000 DM.
------------------------------------------------------------------------
Exkurs:
Die DAG Berlin in der Ära AufhäuserGewerkschaftsarbeit im geteilten Berlin der 1950er Jahre stand unter heute kaum vorstellbaren Rahmenbedingungen. Zur Vorgeschichte: In Berlin kapitulierte die Wehrmacht am 2. Mai, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 erfolgte die Kapitulation des Deutschen Reiches. Deutschland stand von nun an unter Besatzungsstatus der vier Alliierten. Bis Juli 1945 war ganz Berlin unter der Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Erst danach zogen die amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsmächte in Berlin ein.
Mit dem Tagesbefehl Nummer 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 wurden für Berlin antifaschistische Parteien und Gewerkschaften zugelassen. Am 15. Juni 1945 konstituierte sich der vorbereitende Ausschuss zur Gründung eines Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes mit 17 Fachverbänden.
Die Neugründung der Gewerkschaftsbewegung in Berlin spiegelte in den Folgejahren die Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD, dann SED und SPD wider. Auseinandersetzungen über Wahlverfahren für Gewerkschaftsdelegierte, aber auch inhaltliche Differenzen führten zu einem Spaltungsprozess im FDGB zwischen 1946 und 1948. Der FDGB war von der SED dominiert worden, es trennte sich von ihm eine Unabhängige Gewerkschaftsorganisation (UGO). Die sowjetische Besatzungsmacht untersagte der UGO Gewerkschaftsarbeit im Ostteil der Stadt, die westlichen Besatzungsmächte verboten daraufhin dem FDGB die Arbeit im Westteil der Stadt.
Im Westteil der Stadt orientierte sich die UGO mit ihren Einzelgewerkschaften an der gewerkschaftlichen Entwicklung in den Westzonen. Die Angestelltenverbände schlossen sich in ihrer Mehrheit der 1949 gegründeten Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) an, die Industrieverbände dem ebenfalls 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Beide Gewerkschaftsbünde praktizierten als politische Spitzenorganisation in Berlin weitgehenden Kooperation, organisierten gemeinsam die Kundgebungen zum 1. Mai.
Die Führung des Landesverbands Berlin der DAG übernahm Anfang 1952 Siegfried Aufhäuser, der im Jahr zuvor aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt war. Aufhäuser, Jahrgang 1884, kam aus einer jüdischen Kleinfabrikantenfamilie in Augsburg, erlernte den Kaufmannsberuf, arbeitete in Berlin im noblen Textilkaufhaus Gerson, schloss sich einem kaufmännischen Berufsverband an und wechselte 1913 zum Bund der technischen industriellen Beamten (Butib). In der Weimarer Republik formte er den Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA) mit 17 Berufsverbänden und entwickelte für die Gewerkschaftsbewegung das Drei-Säulen-Modell: Die freien Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenbünde kooperierten im AfA-Bund. Eine Konkurrenz zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschafsbund (ADGB) und zum Allgemeinen Beamtenbund wurde vermieden und eine Zusammenarbeit angestrebt.
Aufhäuser, ein Sozialdemokrat (zuerst bei der USPD), war bis 1933 auch Mitglied des Reichstags. Er forcierte die arbeits- und sozialrechtliche Gesetzgebung und wurde noch 1933 als Vertreter des linken Parteiflügels in den Parteivorstand gewählt. Ahnend, wie die NSDAP mit dem Gewerkschaften umspringen wird, trat er Ende März als Vorsitzender des AfA-Bundes zurück und empfahl die Auflösung der Organisation. Aufhäuser war den Nazis in dreifacher Hinsicht verhasst: als Jude, Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Anfang Mai 1933 emigrierte er zuerst nach Paris, dann nach Prag und beteiligte sich vom Exil aus an der illegalen Gewerkschaftsarbeit. Vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag 1938 flüchtete er in die USA nach New York. Er beteiligte sich in den Exilkreisen an der politischen Arbeit, arbeitete in mehreren Komitees mit. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Journalist für deutschsprachige Exilzeitungen wie zum Beispiel den »Aufbau«.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland interessierte er sich zunächst für eine Mitarbeit im DGB-Vorstand in Düsseldorf. Dort mochte man einen Angestelltengewerkschafter nicht in die Reihen integrieren. In Berlin empfing man Aufhäuser in der DAG wie in der SPD mit offenen Armen. In seiner Gewerkschaftsarbeit ließ er den Berufsgruppen in der DAG weitgehende Eigenverantwortung und vollzog auf politischer Ebene den Schulterschluss mit dem DGB Berlin. In den Führungsgremien der DAG warb er für den Abbau des Konkurrenzverhältnisses zum DGB und seinen Einzelgewerkschaften, fand aber dafür eher wenig Unterstützung.
Während der ganzen 1950er Jahre bestritten die Landesvorsitzenden von DGB und DAG gemeinsam die Kundgebungen zum 1. Mai in Berlin. Angesichts des Drucks der Sowjetunion auf West-Berlin dominierten bei den Kundgebungen die Vorwürfe gegenüber der Moskauer Politik. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im geteilten Berlin und der Verlagerung von Industriearbeitsplätzen von West-Berlin in die Bundesrepublik sah man in der außenpolitischen Situation der Stadt das Hauptübel, das sozialem Fortschritt in Berlin entgegenstand. Für die Gewerkschaften im geteilten Berlin, in West-Berlin, war die Orientierung zur Bundesrepublik daher ohne Alternative.
Aufhäuser zählte zu den wenigen Gewerkschaftsführern Ende der 1950er Jahre, der der Bewegung »Kampf dem Atomtod« eine Berechtigung zusprach. Als gewerkschaftlicher Spitzenfunktionär gehörte er dem SPD-Landesvorstand an. Seine politische Vernetzung und seine politische Standfestigkeit verschafften ihm Einfluss, den er für die DAG zum Einsatz brachte. Für eine gewerkschaftliche Bildungsstätte war das eine gute Basis.
Siegfried Aufhäuser schied 1958 aus der aktiven Gewerkschaftsarbeit aus. Noch einmal befasst er sich mit der Angestelltenbewegung: 1963 veröffentlicht er sein Buch »Das Zeitalter der Angestellten«. Für ihn waren die Angestellten seit jeher kein besonderer Stand, sondern ein Teil der Arbeiterklasse. Und während seiner Ära als AfA-Vorsitzender waren die sozialen Auseinandersetzungen Klassenkämpfe. »Ich hoffe, dass hier im Raum beim Wort Klassenkampf niemand vom Stuhl fällt!«, sagte er auf einer Konferenz zu Beginn der 1920er Jahre.
Gunter Lange, Gewerkschafter, Journalist und Historiker. Landesjugendleiter der DAG Berlin von 1973 bis 1976
------------------------------------------------------------------------
Ulrich und seine Mitstreiter wurden auf dem neu erworbenen Gelände bald schon aktiv. Ein Zeltplatz wurde angelegt, eine behelfsmäßige Holzhütte errichtet. Der ursprüngliche Plan, die auf dem Grundstück stehende Gründerzeitvilla zu sanieren, wurde angesichts des bereits fortgeschrittenen Verfalls des Hauses verworfen. Aus Kostengründen entschied man sich für einen Abriss und Errichtung eines Neubaus. Für diesen legte Willy Brand am 17. Juni 1959 den Grundstein. Das neue »Haus der DAG-Jugend« sollte der Förderung demokratischer Werte und der Begegnung von Jugendlichen aus Ost und West dienen. Hier, in Sichtweite der Sektorengrenze, die mitten durch die Havel verlief, war augenscheinlich ein geeigneter Ort für dieses Anliegen.
Eröffnet wurde der neu errichtete moderne und lichte Gebäudekomplex im März 1960 als ›Begegnungsstätte Haus der DAG-Jugend Konradshöhe e.V.‹. Der Bau der Mauer 18 Monate später, am 13. August 1961, vereitelte das ursprüngliche Anliegen, den Dialog zwischen Westberliner und DDR-Jugendlichen zu fördern. Der eiserne Vorhang teilte Europa, die Weltgeschichte änderte ihren Lauf. Damit änderte sich auch die Ausrichtung der Arbeit.
An den Grundintentionen – Eintreten für Demokratie, Frieden, Entspannung und internationale Verständigung – änderte sich indessen nichts. Die DAG begann mit dem Aufbau einer regelmäßigen Seminartätigkeit, die vor allem auf die Bedürfnisse junger Leute ausgerichtet war. 1962 kamen zum DAG-Bundesjugendtreffen Tausende Jugendliche aus der ganzen Bundesrepublik auf das Gelände der Bildungsstätte am Havelufer.
Verwaltet wurde das Haus der DAG-Jugend von der DAG-Landesleitung in der Bernburger Straße. Es gab noch keine eigenständige Verwaltung vor Ort, keinen Leiter und auch noch kein festes Bildungsteam. Jedes Seminar musste seine Dozentinnen und Dozenten selbst mitbringen. Lediglich die »Herbergseltern« wohnten im Haus und waren feste Ansprechpartner für Gäste und Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen.
Bereits für das erste Arbeitsjahr 1960 weist die Besucherstatistik die beachtliche Zahl von 10.545 Teilnehmertagen aus. Dies sollte etwa die Größenordnung sein, in der die Bildungsstätte auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten – bis zum Schluss – ausgelastet war.